Gesund alt werden fängt im Kopf an
Ein Beitrag von Ralf Baumhöfer, Therapeut für kognitive Verhaltenstherapie und Schematherapie
Vielleicht kennst du diesen Satz: „So ist das eben, wenn man älter wird.“
Er klingt harmlos, fast humorvoll. Doch oft steckt dahinter ein resigniertes Kopfnicken: „Ich kann es eh nicht ändern.“
Aber stimmt das wirklich?
Oder ist es eher eine Schutzbehauptung – ein Versuch, das Unangenehme auszublenden?
Viele Menschen ab 40, 50 oder 60 leben nicht ungesund, weil sie „unvernünftig“ wären, sondern weil ihre Gewohnheiten eine Funktion haben: Sie kompensieren damit innere Spannungen.
Das Glas Wein am Abend dämpft die innere Unruhe.
Die Wurstsemmel oder die Schokolade tröstet nach einem stressigen Tag.
Die fehlende Bewegung wird entschuldigt mit: „Ich bin zu müde.“ Dahinter steckt aber oft die Angst vor Frust oder Versagen.
Kurz gesagt: Ungesundes Verhalten hat einen Sinn – es hält unangenehme Gefühle im Schach.
Doch das funktioniert nur kurzfristig. Langfristig schwächt es dich.
1. Kompensation, Vermeidung und Unterwerfung – typische Muster
1.1 Kompensation
Kompensation bedeutet: Du tust etwas, um ein unangenehmes Gefühl nicht spüren zu müssen.
Beispiele:
Essen bei Stress („Ich brauche jetzt etwas, um runterzukommen“).
Alkohol als Belohnung oder Betäubung.
Übermäßiges Arbeiten, um Unsicherheit nicht zu spüren.
Das Gefühl wird kurzfristig gedämpft – aber das Problem bleibt.
1.2 Vermeidung
Vermeidung heißt: Du gehst Situationen aus dem Weg, die unangenehm sein könnten.
Du gehst nicht zum Sport, weil du Angst hast, nicht mithalten zu können.
Du gehst nicht zum Arzt, weil du die Ergebnisse fürchtest.
Du vermeidest Veränderungen, weil die erste Phase mühsam ist.
Vermeidung schützt kurzfristig vor Angst oder Frust, zementiert aber Stillstand.
1.3 Unterwerfung
Unterwerfung bedeutet: Du ordnest dich deinen Gefühlen unter.
„Ich kann meine Lust auf Süßes nicht kontrollieren.“
„Ich bin halt faul, da kann ich nichts machen.“
„Wenn ich traurig bin, esse ich – das war schon immer so.“
Das klingt, als hättest du keine Wahl. Aber das stimmt nicht. Unterwerfung ist eine erlernte Haltung – keine biologische Notwendigkeit.
2. Frustrationsintoleranz – warum der kleine Widerstand so groß wirkt
Viele ungesunde Gewohnheiten haben mit einem einzigen Thema zu tun: Frustrationsintoleranz.
Frustrationsintoleranz bedeutet, dass schon kleine Unannehmlichkeiten als so belastend empfunden werden, dass man sie sofort vermeiden will.
„Ich habe keine Lust auf Sport – also lasse ich es.“
„Es ist anstrengend, gesund zu kochen – also hole ich mir lieber schnell etwas.“
„Ich will sofort Entspannung – also brauche ich Alkohol oder Süßes.“
Das Problem ist nicht die Situation selbst, sondern die innere Erwartung: „Es darf nicht unangenehm sein.“
Doch genau das blockiert Veränderung.
Gesund alt werden heißt, Frust aushalten zu lernen.
Nicht als Dauerqual, sondern als Fähigkeit: Ich halte kurzfristige Unlust aus – weil ich weiß, dass langfristig ein Gewinn wartet.
3. Ursachen verstehen – warum du so handelst
Diese Muster entstehen nicht zufällig. Sie haben Wurzeln.
In der Schematherapie sprechen wir von Grundbedürfnissen: Sicherheit, Zugehörigkeit, Selbstwert, Autonomie.
Wenn diese Bedürfnisse in der Kindheit nicht ausreichend erfüllt wurden, entwickeln sich Bewältigungsstrategien – oft in Form von Kompensation, Vermeidung oder Unterwerfung.
Beispiele:
Wer als Kind kaum Trost erlebte, sucht ihn heute im Essen.
Wer früher kritisiert wurde, meidet heute Situationen, in denen er scheitern könnte.
Wer gelernt hat, dass er „nichts wert“ ist, unterwirft sich seinen Gefühlen und glaubt: „Ich kann es nicht ändern.“
Das zu verstehen ist wichtig – nicht, um Schuld zu suchen, sondern um Muster bewusst zu machen.
Nur was du erkennst, kannst du verändern.
4. Neue Wege im Alltag – Frust tolerieren, Freude erleben
Kleine Frust-Experimente
Übe, kleine Unlust auszuhalten.
Gehe spazieren, auch wenn du keine Lust hast – und spüre danach, dass es sich gelohnt hat.
Verzichte einmal bewusst auf das Glas Wein – und bemerke, dass du den Abend trotzdem genießen kannst.
Warte zehn Minuten, bevor du zur Schokolade greifst – oft verschwindet das Bedürfnis von selbst.
Das Ziel ist nicht Verzicht, sondern Erfahrung: „Ich kann Unlust aushalten – und es tut mir nicht weh.“
4.2 Freude wiederentdecken
Viele kompensieren, weil sie im Alltag zu wenig echte Freude erleben.
Essen und Alkohol sind Ersatzbefriedigungen.
Frage dich: „Was gibt mir echte Freude – jenseits von Essen oder Trinken?“
Musik hören, tanzen, ein Hobby wieder aufnehmen.
Kontakte pflegen, lachen, Neues lernen.
Freude ist die beste Alternative zur Kompensation.
5. Ernährung und Bewegung neu erleben
5.1 Ernährung mit Genuss
Gesunde Ernährung muss nicht langweilig sein.
Koche farbenfroh, probiere Gewürze, entdecke neue Lebensmittel.
Wenn du Essen als Erlebnis gestaltest, brauchst du weniger Ersatz durch Alkohol oder Süßes.
5.2 Bewegung mit Sinn
Bewegung ist kein Muss, sondern ein Geschenk.
Sie schenkt dir Kraft, schützt vor Krankheiten und macht dich unabhängiger im Alter.
Beginne klein: 10 Minuten reichen. Steigere dich langsam. Wichtig ist nicht die Leistung, sondern die Regelmäßigkeit.
6. Die Psyche – dein innerer Kompass
Alles, was du tust, beginnt im Kopf.
Wenn du glaubst, dass du nichts ändern kannst, wirst du nichts ändern.
Wenn du glaubst, dass es sich lohnt, wirst du Möglichkeiten entdecken.
Deine Gedanken sind wie ein Kompass: Sie zeigen die Richtung.
Du entscheidest, ob du ihnen folgst.
7. Ziele – Orientierung statt Druck
Ziele sind wichtig – aber sie müssen zu dir passen.
Nicht: „Ich muss 20 Kilo abnehmen.“
Sondern: „Ich will mich wieder leichter fühlen.“
Nicht: „Ich darf nie wieder Alkohol trinken.“
Sondern: „Ich will abends klarer und ausgeruhter sein.“
Ziele sind Wegweiser, keine Peitschen.
8. Ein Fallbeispiel – wenn es Klick macht
Herr männlich, 56, kam und sagte:
„Ich bin halt ein bequemer Typ. Sport war nie meins. Alkohol gehört dazu.“
Im Gespräch wurde klar: Es war nicht Bequemlichkeit. Es war Frustrationsintoleranz. Schon die Vorstellung, etwas Unangenehmes zu tun, blockierte ihn.
Wir vereinbarten kleine Schritte:
Einmal pro Woche 10 Minuten Bewegung.
Zwei alkoholfreie Abende.
Ein gesundes Gericht pro Woche.
Nach acht Wochen sagte er:
„Es ist verrückt. Anfangs war alles anstrengend. Aber jetzt merke ich: Ich fühle mich besser. Es klickt langsam.“
Das Entscheidende war nicht die Ernährung oder der Sport allein – es war die Erfahrung: „Ich kann Frust aushalten – und dahinter wartet ein Gewinn.“
9. Zusammenfassung – dein Weg
Gesund alt werden fängt im Kopf an.
Kompensation, Vermeidung und Unterwerfung sind Muster – nicht dein Schicksal.
Frustrationsintoleranz ist überwindbar. Du kannst lernen, kleine Unlust auszuhalten.
Freude ist der Schlüssel. Wenn du echte Freude in dein Leben holst, brauchst du weniger Ersatzbefriedigung.
Ernährung, Bewegung, Psyche und Ziele greifen ineinander.
Jeder kleine Schritt verändert dein Morgen.
Schlusswort
Ich weiß aus meiner Arbeit: Die meisten Menschen unterschätzen, wie sehr sie ihr Leben selbst gestalten können, sie können aus unterschiedlichen Gründen die notwendigen, wenigen Parameter dafür nicht setzen.
Sie sehen nur das Hindernis, nicht den Weg dahinter.
Doch genau darum geht es:
Erkenne deine Muster.
Lerne, Frust auszuhalten.
Ersetze Kompensation durch echte Freude.
- Formuliere Bedürfnisse, schaue auf Konsequenzen.
Dann entsteht ein Klick-Moment.
Und du merkst: Es ist möglich. Es lohnt sich. Ich darf anfangen.
Denn: Gesund alt werden fängt im Kopf an – und es macht Freude, diesen Weg zu gehen.
Gerne informiere ich dazu in einem Erstgespräch.
Herzliche Grüße, Ralf Baumhöfer